Im Portät
Gesichter unserer Gemeinde
Margot Wulf
Liebe Frau Wulf, ich höre bei Ihnen einen kleinen sächsischen Akzent. Woher kommen Sie?
Ich bin im Harz geboren und dann in Halle an der Saale aufgewachsen. Ich lebe aber schon seit 1960 in Berlin. Ich wollte damals weg von Halle. Berlin war weit genug und zugleich nahe genug, um trotz allem noch günstig und bequem meine Mutter und meine Geschwister in Halle zu erreichen. Daher entschied ich mich für Berlin.
Wie war das damals kurz vor dem Mauerbau?
Der Zuzug nach Berlin war damals verboten. Aber ich hatte Glück. Ich hatte den Beruf Krankenschwester erlernt. In Ostberlin wurden Krankenschwestern gebraucht. Durch eine Freundin, die in Berlin lebte, kam ich nach Buch in die Robert Rössel Klinik. Die Klinik hatte damals 6.000 Betten, gehörte zur Akademie der Wissenschaften und war nur auf Krebspatienten spezialisiert. So zog ich nach Buch ins Schwesternwohnheim. Später habe ich mich „abgeseilt“ und fand privat eine Wohnung zur Untermiete bei einem Apotheker.
Das war sicher keine leichte Aufgabe als Krankenschwester.
Die Arbeit in der Klinik wurde mir mit der Zeit körperlich zu schwer. Also suchte ich mir einen Ausbildungsplatz als Fürsorgerin in Henningsdorf. Die Ausbildung dauerte zweieinhalb Jahre. Fürsorgerin ist der ältere Begriff für die heutigen Sozialarbeiter. Zuerst wurde die Berufsbezeichnung in den 1970er Jahren in Westdeutschland geändert, und in den 1990er Jahren dann in den neuen Bundesländern auch. Ich hatte vor der Wende viel Kontakt mit westlichen Sozialarbeitern.
Wie kamen Sie dann nach Kreuzberg?
Ich fing 1968 an, in Berlin als Fürsorgerin zu arbeiten. Ich zog in die Heinrich-Heine-Straße. Das war damals Erstbezug. Die Häuser waren gerade erst fertig geworden. Hier lebe ich heute seit 53 Jahren. Die Mauer lief hier hinten lang.
Sie sahen die St. Thomas-Kirche, aber konnten Sie nicht besuchen. Zu welcher Gemeinde gehörten Sie im Osten?
Ich gehörte zur evangelischen Petri-Luisenstadt-Gemeinde. Die Luisenstadtkirche und die St. Petri-Kirche mit ihrem hohen Turm waren ja zerstört. In der Neuen Grünstraße hatten wir den wunderschönen Kirchsaal der St. Petri-Gemeinde. Wir hatten eine richtig schöne Gemeinde mit Kindergarten, Kinderhort und einer Betreuung für geistig behinderte Kinder und Jugendliche.
Wie ging es nach 1989 weiter?
In den 1990er Jahren gab es viel Hin und Her über die Frage, wie die Gemeinden nach der Wende neu strukturiert und aufgeteilt wird. Ich habe das in sehr schlechter Erinnerung. Wir wurden damals wenig informiert. Bei mir ist der Eindruck geblieben, dass wir hintergangen wurden. St. Petri war meine Heimat. Da war ich zuhause. Ich gebe mir Mühe, aber der Verlust schmerzt immer noch. Ich bin dann nach St. Thomas gewechselt. Aber die Gruppen aus St. Petri hielten sich. Bis voriges Jahr hatten wir noch einen Bibelkreis von St. Petri, der noch privat stattfand, und einen Frauengesprächskreis mit zwölf Teilnehmerinnen, der immer in einer Privatwohnung stattfand. Erst 2020 mussten wir unsere Gesprächsgruppen wegen Corona zum ersten Mal aussetzen. Aber wir wollen im Mai wieder anfangen.
Welche Erinnerungen an die Zeit in St. Petri haben Sie noch?
St. Petri hatte noch einen anderen Kreis, der über die ganzen Jahre mit Bad Salzuflen in Westdeutschland verbunden war. Dort bestand die Bibelschule aus Leipzig fort, die nach dem Kriegsende nach Westfalen gezogen war. Dort wurden Gemeindehelferinnen und Missionare für Japan und China ausgebildet. Da gab es in allen Landeskirchen Verbindungen hin. Hier in Ostberlin organisierten wir jedes Jahr eine Studienwoche mit 90 bis 100 Leuten. Die Westdeutschen durften immer nur alle zwei Jahre kommen, damit es gerecht verteilt war. Erst vor sechs Jahren wurde die Tradition beendet. Dann gab es immer noch Begegnungstage mit Bibelarbeiten und Literatur-Veranstaltungen. Mal hatten wir eine Künstlerin zu Gast oder wir beschäftigten uns auf deren Hof mit moderner Kunst. Für nächstes Jahr haben wir schon einen Termin Ende April ausgemacht. Wir freuen uns,wenn wir uns dann wieder sehen können.
Was machen Sie noch gerne in Ihrer Freizeit?
Ich gehe gerne in Museen und Konzerte. Ins Berliner Konzerthaus gehe ich seit den 1960er Jahren. Ich erinnere mich gut an Konzerte mit den Brüdern David und Igor Oistrach. Damals war das noch im Metropol Theater in der Friedrichstraße, wo heute der Admiralpalast ist. Später hörte ich die Oistrachs auf CD. Das hörte sich völlig anders an. Live war schöner. Dann war ich bei der Eröffnung des Konzerthauses dabei. Das werde ich nicht vergessen. Dann erinnere ich mich an ein Konzert mit Jazz & More mit Johannes Herrlich an der Posaune im alten Zirkus in der Reinhardtstraße. Dann ging ich zu DDR-Zeiten gerne in die Gemäldegalerie im Alten Museum. Nach Dresden fuhr ich zur Kunstausstellung der DDR. Später sah ich mir mit Begeisterung die MoMA-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie am Kulturforum an.
Reisen Sie gerne?
Vor der Wende war ich viel in Brandenburg. Wir hatten ja nicht viel verdient, da war ich immer auf irgendeinem Gemeinde-Bungalow von der evangelischen Kirche, wo man sich selber bekochte. Nach der Wende ging meine erste Reise nach Israel mit Biblisch Reisen. Das eindrücklichste war ein ganz toller Gottesdienst mit Abendmahl mitten in der Wüste. Wir waren eine Reisegruppe aus Evangelischen und Katholiken, und eine Jüdin war auch dabei, und in der bunten Mischung feierten wir unter freiem Himmel mitten in der Wüste Gottesdienst, teilten Brot und Wein, wie Schwestern und Brüder, über die konfessionellen Unterschiede hinweg. Am nächsten Tag besuchten wir die Erlöserkirche in Jerusalem und sahen uns die berühmten Chagall Fenster im Jerusalemer Hadassah-Krankenhaus an.
Später fuhrt ich mit einem bayerischen Reise-Unternehmen nach Ägypten, Jordanien, Syrien und Libanon. Ich hatte Glück, dass ich diese schönen Orte noch sehen konnte. Heute geht das nicht mehr so einfach. Auch nach Norwegen, Italien und in die Schweiz bin ich gereist. Wir schliefen im Bus und kochten abends auf dem Zeltplatz. Da traf ich viele interessante Leute. Daran habe ich sehr schöne Erinnerungen.
Heute engagieren Sie sich in der St. Thomas-Gemeinde. Was genau machen Sie?
Ich bin zusammen mit Matthias Lehmann in der Arbeit mit Flüchtlingen tätig. Das fing mit der Kirchenbesetzung 2014 an. Ich war von Anfang an helfend mit dabei. Später haben wir angefangen, mit den Flüchtlingen zu kochen. Für die Gemeinde St. Thomas sorge ich aber vor allem dafür, dass den Gemeindegliedern ab einem gewissen Alter Glückwünsche überbracht werden mit einer freundlichen Grußkarte und einem Blumenstrauß.
Das ist eine schöne Tradition der Anerkennung und Wertschätzung...
...ich bin seit meiner Kindheit kirchliche geprägt. Respekt und Wertschätzung ist für mich ein Ausdruck christlicher Nächstenliebe. Als Jugendliche war ich Mitglied der Jungen Gemeinde in Halle. In meinem Konfirmandenjahrgang waren 250 Konfirmanden. Da wurde an drei Sonntagen konfirmiert, in jeder Gruppe waren 50-60 Konfirmanden. Mein Bruder war später Pfarrer, und mein Schwager auch.
Erinnern Sie sich vielleicht an Ihren Konfirmationsspruch?
Mein Konfirmationsspruch steht in Psalm 23,1: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Psalm 23,1. Und der bedeutet mir auch was. Ich denke, das ist schon so alles richtig. Es gibt auch ein Kirchenlied, das ist unser „Familien-Schlager“ geworden: „In dir ist Freude, in allem Leide“ (EG 398). Das Lied singen wir bei Familienfesten, zu Geburtstagen, aber auch zur Beerdigung, das gehört einfach dazu. Die Tradition hat einen tief traurigen Anlass. Unsere Mutter ist 1990 im Alter von 90 Jahren an einem Fußgängerüberweg von einem Auto überfahren worden. Sie war nicht schuld. Das war schlimm. Ein sehr schwerer Schlag für alle. Nach einem halben Jahr Trauer dachte ich nur noch: Gut, dass sie sofort tot war und nicht länger leiden musste. Der Unfall passierte in Halle. Kurz davon war sie bei mir in Berlin zu Besuch. Sie musste nur nach Halle, weil sie keine Medikamente mehr hatte. Sie wollte sich nur ein Rezept holen und zwei Tage später wieder kommen. In Berlin stand nämlich die Taufe der neu geborenen Urenkelin an. Plötzlich war sie nicht mehr da. Schrecklich. Und dann heißt es in dem Lied weiter: „Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd oder Tod; du hast’s in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not.“ Diese Worte haben mir immer geholfen.
Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?
Ich möchte gerne gesund bleiben. Ich mache mir auch keine Gedanken über die Zukunft, das muss ich so nehmen wie es ist. Ich hoffe, nur dass alles glatt geht.
Das wünsche ich Ihnen von Herzen. Vielen Dank für das Gespräch!
Mit Margot Wulf sprach Pfarrer Christoph Heil.